Es ist noch nicht lange her, zwei Monate genau, da bestritt ich meinen letzten Triathlon in diesem Jahr. Nach dem Triathlon stellte ich mein Rennrad in den Keller und sagte: „Jetzt brauche ich nur noch zu laufen.“ Nur noch laufen. Kein Radfahren mehr, kein Schwimmen mehr, sondern ganz einfach laufen. Ich freute mich darauf. Ich stellte es mir einfach vor. Ein Marathon... ein Marathon, das ist doch Pippifax. Das schafft heutzutage jeder und laufen kann ich ja ganz gut.
Ich hatte einen Trainingsplan. Einen Trainingsplan, nach dem ich nur vier Mal in der Woche laufen musste. Vier Mal, das hörte sich wenig an für meine Ohren. Montags frei, dienstags Intervalle, mittwochs frei, donnerstags Tempodauerlauf, freitags frei, samstags einen ganz, ganz, ganz langsamen Lauf, sonntags den langen langsamen Lauf. Den Samstagslauf ließ ich am Anfang einige Male ausfallen. Da waren die Berge, die wir dieses Jahr so selten besucht hatten. Da waren andere Dinge, die ich tun wollte. Ich nahm den ganz langsamen Lauf nicht ganz so ernst. Alle anderen Trainingseinheiten schon. Im August fiel alles noch sehr leicht. Draußen war es warm und hell. Den Tempodauerlauf konnte ich in der Mittagspause erledigen. Noch waren die Intervalle kurze Intervalle. Der erste längere Lauf am Sonntag war für mich ein Lauf über 25 km. Eine mir bekannte Runde: Nymphenburger Park, Kanal, Würm in Richtung Norden bis Allach, rechts rüber zum Allacher Forst, am Moosacher Rangierbahnhof entlang und dann durch Moosach zurück. Diese 25 Kilometer genoss ich. Die Strecke war abwechslungsreich, mal am Fluss, mal durch einen Wald, mal an einem Grünstreifen entlang, der im Sommer wirkte, als wäre er irgendwo im südlichen Europa.
Dann kam der September. Mit ihm wurden die Abende dunkler, die Tage kälter, die Intervalle länger und die langen Läufe weitete ich nun auf 30 Kilometer aus. Anstatt über Moosach zurück zu laufen, lief ich nun noch weiter zum Olympiapark, ein Stück am schönen Mittleren Ring entlang und dann noch den Olympiaberg hinauf. Wohlgemerkt überholte ich nach einer Laufzeit von 2:23 am Berg noch andere Läuferinnen. Aber meine Beine taten weh und gegen Ende hin wollte ich jedes Mal nur noch ankommen. So ist das also, 30 Kilometer zu laufen, dachte ich mir. Und auch konnte ich mir nicht vorstellen, an die 30 noch 12 weitere Kilometer dranzuhängen.
Ab September schließt auch der Schlosspark eher seine Pforten. Und da ich oftmals erst gegen 19.30 Uhr anfangen konnte, zu laufen, blieb mir nichts anderes übrig, als den Kanal zu umrunden. Der Kanal liegt praktisch vor der Haustüre, hat einen Umfang von entweder 2 Kilometern, wenn man über die steinerne Brücke wieder zurück läuft oder von 3 Kilometern, wenn man in ganz umrundet. Hier waren immer massenweise andere Läufer unterwegs, aber auch Walker und Spaziergänger. So und an denen musste ich also im Intervalltempo vorbeihecheln.
An einem wunderbar warmen Sonntag Mitte September brach ich mit Eisulle zusammen zu einem 30 Kilometer langen Lauf auf. Wir hatten uns eine andere Strecke ausgesucht, da Allach und Moosach und die Würm irgendwann auch mal langweilig werden. Wir wollten durch Schwabing durch zum Englischen Garten, dort in Richtung Norden und ein Stück die Isar hinauf laufen. Draußen war es warm, der Himmel war strahlend blau, alle Leute waren mit ihren Fahrrädern unterwegs. Eisulle sagte irgendwann: „Heute wäre schönes Wetter für die Berge gewesen.“ Ja, dachte ich mir da, wirklich sehr schönes. Und wir quälen uns hier, kriegen nach von der Landschaft nicht allzu viel mit und hängen nachher total müde in der Wohnung rum.
Und die Isar war auch schuld an meinem blauen Zeh. An der Isar zu laufen ist nicht wirklich so schön, wie man es sich vorstellt. Das Bild bleibt praktisch immer gleich. Rechts und links Büsche, dahinter ein Fluss. Der Weg war sehr uneben und ich musste meinen linken Fuß immer schräg setzen, was schließlich zu meinem blauen Zeh führte. Auf dem Rückweg trafen mich zum ersten Mal die Zweifel. Ich jammerte, hatte keine Lust mehr und keine Kraft, hatte Hunger und keinen Bock auf Marathon. Wenn ich jetzt schon jammere, wie soll ich dann den Marathon überstehen? Und wie soll ich ihn überhaupt unter 4 Stunden laufen? Niemals würde ich es schaffen, ab Kilometer 25 noch einen Schnitt zu laufen, der schneller ist als 6 Minuten pro Kilometer. Niemals!
Ich hatte die Schnauze voll vom Training. Ich wollte nicht mehr jeden Sonntag früh aufstehen, um laufen zu gehen. Ich wollte lange frühstücken und dann irgendwo im Biergarten abhängen. Ich wollte nicht schon den ganzen Samstag daran denken müssen, viel zu trinken und nicht zu viel in der Gegend herum zu laufen, nur um am nächsten Tag die 30 Kilometer zu überstehen. Ich wünschte mir zum ersten Mal seit langer Zeit ein ruhiges Nichtsportlerleben, mit Abenden vor dem Fernseher, mit Rotwein und Kaffee und mit nur anderthalb Litern Wasser pro Tag. Ich wollte frei sein von diesen Zwängen, denen man nun mal unterliegt, wenn man für einen Marathon trainiert. Zum ersten Mal durfte ich nicht laufen, sondern musste laufen. Und das Muss ist mir bis heute erhalten geblieben.
Wie soll man auch Freude am Training haben, wenn man, je näher der Marathon rückt, keine Trainingseinheit mehr auslassen sollte? So regnete es an einem Abend, die Temperaturen betrugen schon weniger als 10°. Ich kam gegen 19 Uhr zu Hause an. Vor mir stand eine Intervalltrainingseinheit von 3x 5 Kilometern. Das ganze in der Dunkelheit und bei Regen. 3 x 5 Kilometer bedeutete auch: Runden laufen. Ich hasse es, Runden zu laufen. Nach jeder Runde muss man sich aufs Neue motivieren. Nach jeder Runde ist es leicht zu sagen, ich hör auf. Aber ich lief meine Runden. Ganz allein und tapfer in der Dunkelheit. Sowas machen nur Idioten. Den Marathon, den hatte ich mir danach aber umso mehr verdient.
Er rückte näher, der große Tag. Und mit seinem Näherrücken begannen auch die kleinen Zipperlein, die sich zur Unlust noch gesellten. Hier tat mal das Sprunggelenk weh, dort mal ein wenig das Knie, hier hatte ich das Gefühl, einen Husten zu kriegen, mein Zeh war und ist noch immer schwarz. Es wurde Zeit. Zeit für die Regeneration. Zeit, dass dieser blöde Marathon endlich kommt. Wie sehr freue ich mich darauf, endlich wieder radfahren und schwimmen zu können.
Tja und wie soll es anders sein: mehr als ein Jahr hatte ich keinen Schnupfen. Obwohl ich beim Training nass geworden war, obwohl ich mal im Durchzug gesessen und zu dünn angezogen war. Eine Woche vor dem Marathon erwischt es mich. Am Dienstag ist die Nase zu, läuft und ich fühle mich beschissen. Ich kann nicht früher von der Arbeit gehen, weil ich so viel zu tun habe. Helfen können da nur: kämpfen, Medikamente und Hoffnung.
So. Und nun ist Freitag. Der Freitag vor dem Sonntag. Meine Nase tropft nur noch ein wenig. Kohlenhydrate lagern sich gerade da ein, wo sie hingehören und ich ruhe mich heute noch mal so richtig aus.
Und: ich freue mich auf den Marathon! Dass ich ihn schaffe, steht außer Frage. Muffensausen habe ich lediglich, weil ich nicht weiß, ob ich das von mir angepeilte Ziel erreiche. Und wenn ich es nicht erreiche, will ich, dass mir trotzdem gratuliert wird. Denn schließlich bin ich dann ganze 42 Kilometer am Stück gelaufen.
Angst macht mir das Unbekannte. Was passiert mit mir ab Kilometer 30? Wie werde ich mich fühlen? Wie werde ich reagieren? Und wie überhaupt ist das Gefühl, einen Marathon zu laufen? Das sind die Fragen, auf die ich wirklich noch keine Antwort weiß. Und ich brenne darauf, sie euch am Sonntag Abend zu geben.
_________________ Werft mich in einen Fluss und wenn Ihr Pech habt, hab ich Glück und komm mit einem Fisch im Maul zurück.
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