captainbeefheart hat geschrieben:
Du bist wahrscheinlich eine der wenigen Ausnahmen, die aus einem Systemfehler das Beste machen, das freut mich für Dich und Deine Schüler sehr.
Hm, kein Ironie-Smiley. Dann Danke. Aber das kannst Du eigentlich gar nicht einschätzen, ob ich ein guter oder schlechter Lehrer bin. Ich lasse meine Schüler meinen Unterricht bewerten, sobald ich keine Noten mehr geben muss. Daher beantworten diese mir jährlich die Frage...
captainbeefheart hat geschrieben:
Wir wissen heute, dass nach den optimistischeren Studien zufolge ca. 80%, den pessimistischeren Studien zufolge ca. 92% des in der Schule gelernten Wissens schon 1 Jahr nach dem Abitur nicht mehr verfügbar ist. Ein ziemlich schlechter Return für 12 bis 13 Jahre Invest :-)..
Wusste ich nicht. Sicherlich kannst Du die Studie hier verlinken.
Von ROI bei Menschen zu sprechen finde ich gelinde gesagt daneben...aber so ist das in unserer BWLer-Welt. Aber dazu komme ich weiter unten noch.
captainbeefheart hat geschrieben:
Das überrascht auch gar nicht. Wir wissen ja aus der Neurobiologie längst, dass "wirkliches Lernen", also ein tiefes und nachhaltiges Verankern mit einem tiefen emotionalen Erlebnis einhergehen muss, sonst eliminiert der "gesunde" und "ökonomisierte" Betrieb unseres Gehirns all die oberflächlich aufgenommenen Eindrücke, die uns sonst "um den Verstand bringen" würden.
Nie Neurobiologie sagt genau das. Jetzt sehe ich als Lehrer das Problem, dass ich einen relativ trockenen Stoff vermitteln muss (wenn ich nur bei Inhalten bleibe). Ich bereite diesen "spannend" an der Lebenswirklichkeit der Schüler vor. Die Schüler arbeiten (fast) alle toll mit. Es gongt. Die Schüler gehen raus, Handy an und "zocken" oder "chatten". Die Neurobiologie besagt aber, dass genau in diesem Zeitfenster das Wissen im Langzeitgedächtnis gespeichert wird. Jetzt macht das Gehirn aber die "Wahl" das "zocken" spannender ist. Schon ist bereits 50% des Wissens nach der Pause - weg. Genau so ist es beim lernen, Hausaufgaben machen, usw.
Will sagen (und das sage ich auch meinen Schülern): ich kann noch so geilen Unterricht machen - wenn die Schüler diesen torpedieren, dann bleibt nix hängen.
captainbeefheart hat geschrieben:
Jetzt sind die Rahmenbedingungen in den Schulen heute doch weitgehend so, dass die Lehrpläne viel zu vollgestopft sind (die immer noch steigenden Ausfälle von Stunden kommen zum Problem hinzu) und das zu einem Hecheln von einer Stunde in die nächste führt, von einem Fach zu nächsten, von einer Kurzfrist-Aufnahme von Wissen zum nächsten Prüfungsauskotzen.
Für ein echtes "Abtauchen", ein emotionalisierendes Lernerlebnis bleibt schlicht keine Zeit. Zu viel Stoff, zu wenig Lehrer, zu antiquierte Didaktik. Dazu kommt noch: Keine Vernetzung der Wissensgebiete, die in der Praxis ja der Regelfall ist, sondern isoliertes Silo-Wissen - neben- und aufeinandergepackt.
Lehrpläne vollgestopft: ja
Aber ich nehme mir als Lehrer die Freiheit auch Dinge NICHT zu unterrichten, wenn sie für die Schüler nicht relevant sind.
Keine Vernetzung von Wissensgebieten: falsch - klar findet das statt. Man kennt ja durch die didaktische Jahresplanung den Stoff der anderen Lehrer. Darauf bezieht man sich. Zudem gibt es Lernarrangements, bei denen Fächer kombiniert werden.
Antiquierte Didaktik?: was ist antiquiert? was ist "moderne" Didaktik? es gibt nur gute und schlechte (jeweils bezogen auf Inhalt, Schüler, Ziel des Unterrichts). Da kann ein Lehrervortrag mal gut und mal schlecht sein und da kann Selbstorientiertes Lernen mal gut und mal schlecht sein.
captainbeefheart hat geschrieben:
Fast vollkommen auf der Strecke bleiben zudem das Invest und Entwicklungsmöglichkeiten der Persönlichkeit.
Hast Du mal einen Lehrplan von vorne bis hinten durchgelesen? Da steht fast mehr drin über Entwicklung von Kompetenzen (Sozial- und Humankompetenzen) , als Wissen, dass vermittelt werden soll. Wissen ist ein Vehikel um Kompetenzen zu fördern. Z.B. kann ich über Dilemmasituationen bei Lenk- und Ruhezeiten einerseits das Wissen über das Thema behandeln, aber auch die Schüler zum Thema "Verantwortung in der Gesellschaft, eigene Verantwortung" bilden. Tja, da passiert gleichzeitig und ich muss immer innerlich grinsen, wenn die Schüler denken, wir haben "nur" das Thema Lenk- und Ruhezeiten behandelt...
Wenn für Dich 12/13 Jahre "Invest" = soundsoviel Wissen am Ende sein muss, dann tut es mir leid. Mir ist wichtiger, ich sehe, wie die Schüler sich als Menschen weiterentwickeln, Persönlichkeit aufbauen, Probleme lösen können, offen für neues/anderes sind, usw.
Wissen wandelt sich, Probleme lösen muss man immer...
Ich hoffe es fällt auf, dass ich so allgemeines Bashing total verabscheue und versuche auch deshalb, dass meine Schüler die Dinge individuell und differenziert sehen. Aber auch hier sagt die Neurobiologie, dass "Schubladendenken" uns Menschen erst so weit gebracht hat, weil wir bestimmte Dinge in Schubladen ablegen und uns deshalb den lebensbedrohlichen Problemen zuwenden konnten...