Berlin 2018
Rund um die Wiese herum, wo Kühe und Pferde grasten, stand eine alte, alte Steinmauer. In dieser Mauer - nahe bei Scheuer und Kornspeicher - wohnte eine Familie schwatzhafter Feldmäuse. Aber die Bauern waren weggezogen, Scheuer und Kornspeicher standen leer. Und weil es bald Winter wurde, begannen die kleinen Feldmäuse Körner, Nüsse, Weizen und Stroh zu sammeln. Alle Mäuse arbeiteten Tag und Nacht. Alle - bis auf Frederick.
Gefühlt haben alle, also wirklich ALLE Läufer um mich herum in den vergangene Monaten fleißig trainiert und trainieren schon oder wieder auf die nächsten Wettkämpfe. Die einzige, die in den vergangen Monaten wenig bis nichts gemacht hat - vor allem keine sinnvolle Marathonvorbereitung war - ich. Aber der 16.09. rückte unaufhaltsam näher und dann war es schon egal: dann starte ich halt im Frederick-Modus in Berlin: Ich bereite mich auf eine Expedition in die Hauptstadt vor und packe zur Sicherheit mal alles von Hochsommer bis tiefster Winter ins Auto. Meine Hausapotheke machte jeder Klinik Konkurrenz und zur Sicherheit bringe ich sogar Nutella, Brot und Kaffee mit - man hörte ja schon schlimme Dinge aus Berlin und ich wollte mich nicht auf Rosinenbomber verlassen.
Frank erträgt mit Ruhe meine Tränen schon bei der Startunterlagenabholung und beim Frühstückslauf und ich werde langsam ruhiger: Hey, das wird der 8. Marathon - vor 5 Jahren war das alles noch nicht vorstellbar.
Elke meinte im Vorfeld noch, daß sie einfach meinen Mut nicht hätte und daher lieber trainieren würde. Ich fragte mich, ob das noch Mut oder schon Wahnsinn wäre, aber ich wußte, daß mein Kopf in den vergangen Wochen einfach stark war und so begab ich mich zur Party am 17. Juni mit 40.000 anderen und tanzte in den Tag.
Als ich über die Startlinie ging war die Spitze schon 20 km weiter, aber so klein, dünn und schwarz werde ich auch nicht mehr, also wird sich Berlin mit mir heute länger vergnügen müssen.
Ich trabte los und ich fühlte mich gut und begann zu sammeln: Zuerst sammelte ich Farben: das Gelb der Sonne, die so warm wie noch nie beim Marathon vom Himmel schien, das Gold der Siegessäule, das Rot von den Trikots der vielen Dänen, das Grün von vielen Parks und Bäumen in der Stadt, das Pink von einem sensationellen Outfit am Streckenrand, unglaublich viele bunte Farben von Trikots und immer wieder das Blau der Blueline, die mich durch die Stadt begleitete und mir den besten Weg zum Ziel zeigte.
Ich sammelte Namen: von Menschen, die neben mir angefeuert wurden, von Namen auf Schildern die hoch gehalten und die Namen von den Menschen, die mich an diesem Tag vor Ort oder zu Hause unterstützt haben. Dank Whattsapp wurde ich von ein paar wunderbaren Freunden auch noch kurz vorm Start mit aufmunternden Worten unterhalten und die Gedanken an meine Lieben trug mich durch den Tag. Menschen, die vor dem Rechner oder Handy saßen oder parallel in eigenen Wettkämpfen unterwegs waren. Und irgendwann hatte ich sogar ein Zweiterteam an der Strecke mit dem ich so nicht gerechnet haben: Ines lief mit mir mit und Frank radelte neben her.
Ich sammelte Lieder: Beginnen von der Musik vorm Start trugen mich so viele Musikstücke über die Strecke. Bekannte und unbekannte, langsame und schnelle. Eine Weile lief ich hinter einer Athletin her, die so laut Musik hörte, daß ich auch daneben noch was davon hatte. Ansonsten trug mich phasenweise eine Band zur nächsten und ich mußte mich beherrschen nicht immer zu jubeln und mitzusingen und bei manchen Stücken drohten dann schon mal ein Tränchen mit hoch zu kommen.
Ich sammelte Gefühle: Glück hier bei diesen traumhaften Bedingungen mit so vielen Menschen laufen zu dürfen, Schmerzen wie noch in keinem Wettkampf, aber dem Wissen und der Zuversicht, ich krieg das Ding ins Ziel, Dankbarkeit so viele wunderbare Freunde zu haben, die mit mir mitfiebern und an mich denken, die Sicherheit, daß ich mit meinem Schmetterlingsoutfit wenigstens die B-Note gewinne, Freude über soviel gute Stimmung, Liebe zum Sport und allem, was er mir gibt und Stolz, daß mein Kopf so stark ist und mich alles bewältigen läßt.
Ich sammelte die Elemente: Ich sammelte Luft, ich atmete tief ein und wußte meine Lunge tut ihr bestes um den Sauerstoff ins Blut zu bringen, ich sammelte Wasser, denn es war warm und ich mußt dieses Mal sogar in Berlin ständig kühlen. Meine kleine Wasserflasche vom Start begleitete mich daher bis ins Ziel und wurde an jeder Wasserstation aufgefüllt. Ich sammelte das Gefühl für die Erde: 42 km Asphalt tut einfach irgendwann weh, aber das Bewußtsein für Kopfsteinpflaster, Schlaglöcher, und hin und wieder der Ausflug auf sandige Wege nebendran um das Kleben von den Schuhen zu bringen brachte die Konzentration doch immer wieder auf den Boden: hier ist mein Weg. This is the shortest way stand auf einem Banner über der Straße.
This is the shortest way. Aua.. der kürzeste Weg wird verdammt lang, wenn so nach 12 km die Energie schwindet und man anfangen muß seine Marathongeschwindigkeit aufzugeben. Bei km 14 wurde aus dem "oh fein, ein Viertel geschafft vom km 10" ein "oh Mist, noch zweimal so weit wie jetzt". Nach dem Halbmarathon spuckte mir leider mein Rennabbruch aus 2014 durch den Kopf und ich fing dann schon mal an meinen Bericht vorzudenken und so vergingen auch die kritischen Kilometer. Ich wußte mittlerweile, daß es einen neuen Weltrekord gibt und Frank müßte wohl auch schon im Ziel sein. Und da ich ja nichts anderes zu tun hatte, trabte ich halt wieder und strahlte ins Publikum und saugte die ganzen Eindrücke auf. Der Winter könnte dunkel, grau und kalt werden, also sollte ich noch vieles aufsaugen und mitnehmen.
Meine Verpflegung funktionierte ziemlich gut, war aber komplett auf Eigenverpflegung aufgebaut, so daß ich mit meiner kompletten Ausstattung aus Gels, Cola und alkoholfreiem Bier an den Start ging. Mein Rücken dankte es mir mit sagenhaften Rückenschmerzen, die nur von den sagenhaften Schmerzen in den Beinen und den Schmerzen in der Zehe (Blase ab km 12) getoppt wurde. Dazu hatte ich leider fast den ganzen Tag Bauchschmerzen. Frau sein ist nicht immer lustig. Vor 4 Wochen war Inferno. In 4 Wochen mache ich sicher alles, nur keinen Wettkampf. Frank hatte zwar noch einiges mit, aber wie immer, krieg ich so ab km 30 kaum noch was rein und es war daher beruhigend, daß es noch was gegeben hätte, aber Schlucken ging kaum noch.
Bei km 29 war dann Frank das erste Mal an der Strecke und ich konnte ihm seine Zielzeit abringen. Hm - für "über 3 Stunden" wirkte er erstaunlich zufrieden. Freut mich, aber gleichzeitig teile ich ihm mal mit, daß das heute noch ein längeres Vergnügen wird. Er schon wieder an der Strecke und bei mir noch kein Ende in Sicht und ich werde immer langsamer. Kurz danach Ines: sie trabt zu mir, läuft und mit mir und fragt mich wie es mir geht - und hört dann einfach nicht mehr auf. Wir reden, irgendwann unterhält sie mich nur noch und ich nicke hin und wieder und am Schluß unterhält sie die Athleten um mich herum und ich frag mich mal wieder, warum so ein Marathon nicht bei km 40 zu Ende sein kann. Es hört gefühlt einfach nicht mehr auf. Die letzten zwei Kilometer sind für mich immer ein endloses warten auf die nächste Kurve, der nächste Knick in der Strecke bis der ersehnte Blick auf Brandenburger Tor kommt. Die Tränen drohnen zu kommen und ich dränge sie zurück, weil ich weiß, dann fehlt die Kraft zum Weiterlaufen und die brauch ich so dringend. Ines steigt aus, ich fokussiere auf den Weg durch die Säulen und den Blick dahinter aufs Ziel. Ziel. Ziel. Ich hab tatsächlich die 42 km geschafft. Die letzten 195 sind nicht mehr in meinem Bewußtsein. Lächeln, Freuen. Ich bin da. Meine Beine haben brav ihren Dienst getan, genauso wie alle anderen Teile und obwohl die Zeit unterirdisch war, war ich stolz durchgelaufen zu sein und mir durch keine traurigen oder schweren Gedanken den Tag hab nehmen lassen. It´s my life war in Roth die Initialszündung.
An Tagen wie diesen läuft mittlerweile meistens nur noch in meinem Kopf, aber die Unendlichkeit hab ich mal wieder gespürt. Dieses Mal gab es im Ziel keine großen Tränen. Vielleicht war ich selbst dazu am Ende zu kaputt. Ich war da, hab mich in Folie gewickelt, meine Verpflegungstüte genommen, kein Erdinger mehr bekommen, meinen Beutel abgeholt, Frank vorm Ausgang entdeckt und dann saß ich auf einer Bank und ließ die Erinnerungen an den Tag Revue passieren. Dabei fiel mein Blick auf den Brunnen vorm Haus der Kulturen der Welt und ich dachte an den Spruch heute auf einem Schild: You don´t sweat, you sparkle. Daß es so lange wird, hätte ich mir nicht gedacht - aber ich hatte unglaublichen Spaß und ich bin stolz auf meinen Kopf, der mich das alles ertragen und durchstehen ließ und Dir mich heute mit einen breiten Grinsen nach Hause fahren ließ. Tschagga... der 3. Berlin-Marathon ist in der Tasche. Und wie Ines am Ende meinte "und wann ist der nächste Marathon?" Schon gebucht... ich mach weiter, aber künftig trainiere ich wieder. Versprochen.
Als nun der Winter kam und der erste Schnee fiel, zogen sich die fünf kleinen Feldmäuse in ihr Versteck zwischen den Steinen zurück. Aber nach und Nach waren fast alle Nüsse und Beeren aufgeknabbert, das Stroh war alle und an Körner konnten sie sich kaum noch erinnern. Es war auf einmal sehr kalt zwischen den Steinen und der alten Mauer und keiner wollte mehr sprechen. Da fiel ihnen plötzlich ein, wie Frederick von Sonnenstrahlen, Farben und Wörtern gesprochen hatte. "Frederick", riefen sie, "was machen deine Vorräte?" "Macht die Augen zu" sagte Frederick...
Und was ich so im Winter machen werde?
Ich weiß, ich werde mir im Winter die Erinnerungen herausholen, vom strahlenden ersten Kilometer auf dem Weg zum Großen Stern, vom zweiten Kilometer zum Ernst-Reuter-Platz, vom fünften Kilometer, wo ich so froh war, daß die erste Wasserstation kam und ich nicht mit Johannisbeerschorle meine Arme kühlen mußte, vom km 10, wo mir bewußt wurde, daß die Spitze schon im Ziel ist und das völlig egal ist, weil ich in meinem Rennen mein bestes gebe, wie alle anderen auch in ihrem Rennen und nur das zählt, was jeder für sich an dem Tag macht, vom km 12 als mir klar war, daß Blasen doof sind, aber nicht kriegsentscheidend, vom km 14, der mir gezeigt hat, daß Training jenseits der 10 km echt Sinn macht, vom km 15, wo ich mich fragte, warum der Mann gar so laut türkische Lieder singen muß, vom km 21 bis 23, die mir gezeigt haben, daß man mit Konzentration auch schlechte Gedanken und Erinnerungen wegatmen kann, vom km 24, wo ich mich schon auf den "Musikbalkon" freute, vom km 26 wo ich mich jedes Mal frage, wieso ein Blumenladen wie eine Cocktailbar aussieht, vom km 30 bis 41 (ich bin Ines so dankbar und stolz, daß sie das trotz ihrer Knieprobleme gemacht hat) denk ich wohl einfach nur an meine unglaublich schweren Beine, die trotzdem ihren Dienst taten und Ines, die meinen Kopf fütterte.
Ich werde auf mein Armband blicken und wissen: ja, ich bin Marathonläuferin und ich lebe mein Leben und ich hole mir die Farben, Namen, Lieder, Gefühle und Elemente aus diesem Tag auch in den Alltag und lebe.
Erinnert mich daran, falls mich der Alltag mal wieder auffrißt.
_________________ 06.05.2012 Caldera Blanca 12.10.2014 - München Marathon * 12.07.2015 - Challenge Roth * 27.09.2015 - Berlin Marathon * 25.09.2016 - Berlin Marathon * 27. - 30.11.2016 Lanzarote Running Challenge * 10.12.2016 Lanzarote Marathon * 09.07.2017 Challenge Roth
|